Im abschließenden Teil der Artikelserie zur Orthorexie beschäftigen wir uns mit einem für den deutschsprachigen Raum entwickelten Questionnaire, der Düsseldorfer Orthorexie-Skala (Barthels et al., 2015). Die Autoren weisen die erforderlichen Gütekriterien nach, diese liegen auch in einem guten Bereich, von daher ist der Questionnaire an sich – zumindest theoretisch – in Ordnung. Liegt eine Pathologisierung von Gesundheitsverhalten vor?
Warum ist auch dieser Fragebogen problematisch?
Leider liegt auch hier eine Verwechslung bzw. Vermengung von Essstörung und Gesundheitsbewusstsein vor. Die Autoren selbst beschreiben eine Korrelation eines als gesund wahrgenommenen Essverhaltens mit Orthorexie von 21 %, was eine doch relevante Schittmenge darstellt. Mit anderen Worten: Es gibt eine deutliche Überlappung, eine klare Trennschärfe ist eigentlich nicht gegeben, wäre aber für die Konzeptualisierung notwendig.
Die Korrelation von Orthorexie mit der subjektiven Bedeutsamkeit gesunder Ernährung liegt aus Sicht der Autoren bei 42 %, was ebenfalls substanziell ist, aber auch nicht zwangsläufig auf eine Essstörung hinweisen muss, denn eine hohe subjektive Bedeutsamkeit gesunder Ernährung impliziert nur, dass die individuelle Gesundheit eine Motivation für Ernährungsentscheidungen darstellt. In der Forschungsliteratur wird Gesundheit sogar als wichtiges (und gänzlich unpathologisches) Ernährungsmotiv angesehen (Renner et al., 2012).
Ausgewählte Items des Fragebogens
„Dass ich gesunde Nahrungsmittel zu mir nehme, ist mir wichtiger als Genuss.“ In der heutigen Gesellschaft wird Genuss vielfach mit dem Verzehr ungesunder Lebensmittel in Verbindung gebracht (Burger & Stice, 2012; Gearhardt et al., 2011; Ifland et al., 2009). Vor diesem Hintergrund ist es im Sinne einer Gesundheitsorientierung durchaus vernünftig, Genuss nicht zu wichtig zu nehmen. Genuss soll ja nicht vermieden werden – natürlich soll das, was man isst, auch schmecken, andererseits muss man nicht alles essen, nur weil es schmeckt.
„Ich habe Ernährungsregeln aufgestellt.“ Dieses Item ignoriert, dass Ernährungsregeln auch etwa aus ökologischen oder ethischen Gründen aufgestellt werden können. Etwa der Wunsch, Tierleid zu minimieren, führt zur Ernährungsregel, keine tierischen Lebensmittel zu verzehren. Hier werden mit Fleisch, Fisch, Milch und Milchprodukten, Eiern und anderen tierischen Nebenprodukten (z. B. Gelatine) gleich 5 Gruppen auf einmal gestrichen. Es handelt sich dann um eine ethisch motivierte Entscheidung, nicht um eine Essstörung.
„Ich finde es positiv, mehr als andere Menschen auf eine gesunde Ernährung zu achten.“ In einer Gesellschaft, in der sich Menschen oftmals kaum Gedanken darüber machen, was sie essen, und wo es auch viel zu wenig qualifizierte Ernährungsaufklärung gibt, wird es selbstverständlich jeder gesundheitsbewusste Mensch positiv finden, wenn er sich gesünder ernährt als andere, weil er weiß, dass er bestimmten Risikofaktoren für ernährungsabhängige Erkrankungen vorbeugt. Wie ein Nichtraucher, der es höchstwahrscheinlich positiv findet, dass er im Vergleich zum Raucher ein 75 – 90 % niedrigeres Lungenkrebsrisiko aufweist (Hecht, 1999). Das ist nicht pathologisch, sondern im Gegenteil präventiv gedacht.
„Wenn ich etwas Ungesundes gegessen habe, mache ich mir große Vorwürfe.“ Das Item ergibt keinen Sinn und weist auch auf keine Essstörung hin. Genau so könnte man sagen: „Wenn ich mich betrunken habe und am nächsten Morgen mit einem Kater aufwache, mache ich mir große Vorwürfe.“ Würde dies auf so etwas wie eine pathologische Alkohol-Abstinenz hinweisen? Vielmehr liegt augenscheinlich die Einsicht vor, dass man einen Fehler gemacht hat, aus man etwas lernt, da weder Alkohol noch andere ungesunde Dinge essenziell sind und man auch sehr gut ohne sie glücklich und zufrieden sein kann.
„Es fällt mir schwer, gegen meine Ernährungsregeln zu verstoßen.“ Auch dieses Item ignoriert, dass man sich Ernährungsregeln auch aus z. B. ökologischen oder ethischen Gründen geben kann. Jedem Menschen, der bei Sinnen ist, wird es schwerfallen, gegen die eigene Überzeugung zu handeln.
Was wird hier eigentlich gemessen?
Insgesamt darf auch bei diesem Questionnaire angezweifelt werden, dass eine Essstörung gemessen wird. Aufgrund der von den Autoren angegebenen Kennzahlen kann jedoch konstatiert werden, dass definitiv irgendetwas gemessen wird – aber dass es sich um einen Zwang, sich gesund zu ernähren, handeln soll, überzeugt nicht. Wahrscheinlich wird so etwas wie ein ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein gemessen. Ein solches ist selbstverständlich nicht pathologisch.
Orthorexie verdient die Aufmerksamkeit nicht
Das Konstrukt unterscheidet nicht wirklich zwischen Gesundheitsorientierung (die ein bedeutendes und völlig unpathologisches Ernährungsmotiv darstellt, s. dazu Renner et al., 2012) und echter Zwanghaftigkeit – letztgenannte ist auch nicht mit einer Essstörung zu verwechseln.
Orthorexie erhält viel zu starke Aufmerksamkeit. Das Konzept ist nicht nur unnötig, sondern auch kontraproduktiv. In Anbetracht konstant hoher Zahlen chronischer Erkrankungen, die in den meisten Fällen ernährungsabhängig sind, benötigen wir keine Konstrukte, die Gesundheitsverhalten in ein pathologisches Licht rücken. Richtig wäre, ungesundes Ernährungsverhalten zu adressieren und konstruktiv geeignete Wege zu einer gesünderen Ernährung zu finden.