Orthorexie – die Pathologisierung von Gesundheitsverhalten (Teil 3)

Orthorexie Fragebogen

Nach­dem wir im letz­ten Teil den Ortho-15 bzgl. der Orthor­e­xie ken­nen­ge­lernt haben, sehen wir uns nun aus­ge­wähl­te Items an. Aus Platz­grün­den betrach­ten wir nicht alle Items, aber das zugrun­de lie­gen­de Prin­zip kann trotz­dem ver­an­schau­licht werden.

Probleme mit den Items

Ein inhalt­li­ches Pro­blem betrifft die Items selbst. Wir haben in Teil 2 bereits über Vali­di­tät (wird das gemes­sen, was man zu mes­sen vor­gibt?) gespro­chen. Es drängt sich also die Fra­ge auf: Geben die Items tat­säch­lich eine Aus­kunft über ein patho­lo­gi­sches (Ess-) Ver­hal­ten im Sin­ne einer Orthor­e­xie? Da die Autoren lei­der auf die Nen­nung ein­schlä­gi­ger sta­tis­ti­scher Kenn­zah­len ver­zich­ten, kann nur spe­ku­liert wer­den, wel­che Items die „bes­se­ren“ und wel­che die „schwä­che­ren“ im Rah­men die­ses Ques­ti­on­n­aires sind, wir grei­fen daher ein­fach eini­ge her­aus, man kann die Items bei Doni­ni et al. (2005) nachlesen.

Ausgewählte Items des Ortho-15 zur Messung von Orthorexie

When you are eating, do you pay atten­ti­on to the calo­ries of the food?“ In Anbe­tracht der Über­ge­wichts-Epi­de­mie, die wir ins­be­son­de­re in der west­li­chen Welt sehen, erscheint eine Auf­merk­sam­keit für die Kalo­rien­dich­te von Lebens­mit­teln mehr als ver­nünf­tig. Im Jahr 2012 waren 53 % der Frau­en und 67 % der Män­ner über­ge­wich­tig, 24 % der Frau­en bzw. 23 % der Män­ner sogar adi­pös (Sta­tis­ta, 2012a; Sta­tis­ta, 2012b). Gene­rell ist zu emp­feh­len, den Fokus von kalo­riendich­ten (v. a. tie­ri­sche Lebens­mit­tel, Junk Food) auf nähr­stoffdich­te Lebens­mit­tel (z. B. Obst, Gemü­se, Hül­sen­früch­te, Voll­korn­ge­trei­de) zu ver­schie­ben (Fuhr­man et al., 2013). Nüs­se und Samen neh­men eine Son­der­stel­lung ein, da sie sowohl kalo­rien- als auch nähr­stoff­dicht sind, aber trotz der Kalo­rien mit einem guten Gewichts­ma­nage­ment in Zusam­men­hang ste­hen (Rebel­lo et al., 2013). Auf­merk­sam­keit gene­rell steht nach den Ergeb­nis­sen der Autoren des Ortho-15 nicht in Zusam­men­hang mit Orthor­e­xie. Hier wür­de man, besä­ße das Kon­strukt Gül­tig­keit, ande­res erwar­ten, da „auf­merk­sam sein“ ja gera­de bedeu­tet, sich bewusst für etwas bzw. gegen etwas zu ent­schei­den. Eng ver­wandt ist das Kon­zept der Acht­sam­keit, die in der For­schungs­li­te­ra­tur durch­aus mit gesün­de­ren Ernäh­rungs­mus­tern in Ver­bin­dung gebracht wird (Gil­bert & Waltz, 2010), wobei die Zusam­men­hän­ge aller­dings nicht ganz klar sind (Mar­tin et al., 2013). Man kann ver­mu­ten, dass bestimm­te Ernäh­rungs­mo­ti­ve, wie z. B. Gesund­heit, einen Ein­fluss haben.

When you go in a food shop, do you feel con­fu­sed?“ Es ist nicht krank­haft, son­dern viel­mehr prä­ven­tiv sowie gesund­heits­för­dernd, wenn man auf­grund eines gewis­sen Gesund­heits­be­wusst­seins ob der Risi­ken bestimm­ter Lebens­mit­tel oder der vie­len Zuta­ten gera­de in Fer­tig­pro­duk­ten, die man z. T. kaum aus­spre­chen kann, beun­ru­higt und ver­wirrt ist und sich dann für natur­be­las­se­ne­re Lebens­mit­tel wie Obst und Gemü­se ent­schei­det, deren gesund­heit­li­che Vor­tei­le unstrit­tig sind (Ornish, 2009). Das bewuss­te Stre­ben nach Zube­rei­tung und Ver­zehr gesun­der Mahl­zei­ten soll­te eine posi­ti­ve Kon­no­ta­ti­on erhal­ten. Inter­es­sant ist die Fest­stel­lung der Autoren des Ortho-15, dass Irri­ta­ti­on nicht signi­fi­kant mit Orthor­e­xie zusam­men­hängt. Wie vor die­sem Hin­ter­grund dann das Item zustan­de kommt, ist nicht nach­voll­zieh­bar. Eben­so wür­de man, besä­ße das Kon­strukt Gül­tig­keit, z. B. eine nega­ti­ve Kor­re­la­ti­on mit Zufrie­den­heit und eine posi­ti­ve mit Depres­si­on erwar­ten – bei­des ist laut der Autoren des Ortho-15 jedoch nicht der Fall. Dies ist in sich widersprüchlich.

Do you allow yours­elf any eating trans­gres­si­ons?“ Die­ses Item muss nicht auf eine Ess­stö­rung hin­wei­sen. Die Fra­ge, ob man es sich gestat­tet, ernäh­rungs­mä­ßig über die Strän­ge zu schla­gen kann genau so, wenn nicht sogar tref­fen­der, auf ande­re indi­vi­du­el­le Eigen­schaf­ten eines Men­schen hin­wei­sen, etwa Risi­ko­freu­dig­keit. Man könn­te dies­be­züg­lich eben­so fra­gen, ob man es sich erlaubt zu rau­chen, ohne Helm aufs Fahr­rad zu stei­gen oder gele­gent­lich Koka­in zu kon­su­mie­ren. Auf der ande­ren Sei­te ist es gera­de nicht krank­haft, son­dern viel­mehr ver­nünf­tig und prä­ven­tiv, auf nach­weis­lich unge­sun­de Lebens­mit­tel zu ver­zich­ten. Dane­ben kön­nen, wie schon in Teil 1 der Arti­kel­se­rie ange­deu­tet, ethi­sche Beweg­grün­de eine Rol­le spie­len, auf­grund derer man den Ver­zehr etwa tie­ri­scher Lebens­mit­tel kate­go­risch ablehnt, so dass es eine Aus­nah­me per Defi­ni­ti­on nicht gibt.

Do you think that the con­vic­tion to eat only healt­hy food increa­ses self-esteem?“ Die Über­zeu­gung, aus­schließ­lich gesun­de Nah­rungs­mit­tel zu ver­zeh­ren stei­ge­re den Selbst­wert muss nicht auf eine Ess­stö­rung hin­wei­sen. Eine gesun­de Ernäh­rung kann den Selbst­wert stei­gern, da der Betref­fen­de mit sei­ner ent­spre­chen­den Kauf­ent­schei­dung hier­mit bei­spiels­wei­se auch zum Umwelt­schutz bei­trägt (Pimen­tel et al., 2004; FAO, 2006). Eben­so sind jene Kauf­ent­schei­dun­gen mög­li­cher­wei­se ethisch moti­viert. Nicht zuletzt ist es eigent­lich zu erwar­ten, dass sich Men­schen, die auf­grund einer gesun­den Ernäh­rung tat­säch­lich gesund sind, auch ins­ge­samt bes­ser fühlen.

Do you think that con­sum­ing healt­hy food may impro­ve your appearance?“ Eine gesund­heits­för­der­li­che Ernäh­rung kann das äuße­re Erschei­nungs­bild ver­bes­sern. So zeig­ten Stu­di­en, dass durch den regel­mä­ßi­gen Ver­zehr pflanz­li­cher Voll­wer­ter­zeug­nis­se die Haut weni­ger altert (Pur­ba et al., 2001) und sich die Haut­far­be ver­bes­sert, so dass man als gesün­der und attrak­ti­ver wahr­ge­nom­men wird (Ste­phen et al., 2011; Whit­ehead et al., 2012). Pflanz­li­che Voll­wer­ter­zeug­nis­se stel­len außer­dem die mit Abstand nach­hal­tigs­te Mög­lich­keit einer erfolg­rei­chen Gewichts­re­duk­ti­on dar (Mer­rill et al., 2008).

Do you think that on the mar­ket the­re is also unhe­alt­hy food?“ Psy­chisch kran­ke Men­schen phan­ta­sie­ren oft bestimm­te Zustän­de oder Sach­ver­hal­te, die nicht den objek­ti­ven Tat­sa­chen ent­spre­chen. Dass es aber unge­sun­de Lebens­mit­tel auf dem Markt gibt, kann jeder­zeit durch Inau­gen­schein­nah­me eines Super­markts bestä­tigt wer­den. Jeder Mensch, der bei Sin­nen ist, wird die­ser Aus­sa­ge zustimmen.

At pre­sent, are you alo­ne when having meals?“ Lei­der begrün­den die Autoren nicht evi­denz­ba­siert, war­um es für eine Orthor­e­xie spricht, wenn man Mahl­zei­ten momen­tan allei­ne ein­nimmt. Es kann vie­le Grün­de geben, allei­ne zu essen, die aller­meis­ten dürf­ten nichts mit gestör­tem Ess­ver­hal­ten zu tun haben, z. B. bestimm­te zeit­lo­gis­ti­sche fami­liä­re Kon­stel­la­tio­nen oder die Tat­sa­che, dass man allei­ne lebt, kön­nen eben­so eine Begrün­dung dafür liefern.

Eini­ge der Items des Ortho-15 schei­nen unge­eig­net und unpas­send, ande­re sind zu unspe­zi­fisch, weil sie nicht zwi­schen psy­chisch gesund und psy­chisch krank dif­fe­ren­zie­ren. Wie also soll auf­grund die­ses Dia­gnos­tik­in­stru­ments auf eine Orthor­e­xie geschlos­sen wer­den kön­nen? Dies ist schlicht und ergrei­fend nicht mög­lich. Daher kann man durch­aus von einer künst­li­chen Patho­lo­gi­sie­rung spre­chen. Wer also Gesund­heits­ver­hal­ten an den Tag legt, soll­te sich nicht ver­un­si­chern lassen.

In Teil 4, dem letz­ten Arti­kel die­ser Serie, betrach­ten wir einen wei­te­ren Orthorexie-Questionnaire.

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