Orthorexie – die Pathologisierung von Gesundheitsverhalten (Teil 2)

Orthorexie

In Teil 1 der Arti­kel­se­rie haben wir das Kon­strukt Orthor­e­xie nebst inhalt­li­chen Pro­ble­men ken­nen­ge­lernt, die einer Patho­lo­gi­sie­rung von Gesund­heits­ver­hal­ten Vor­schub leis­ten kön­nen. Nun sehen wir uns an, wie die For­schung das Kon­strukt mes­sen möch­te. Hier­zu wer­fen wir einen ein­füh­ren­den Blick auf den Ortho-15, einen psy­cho­lo­gi­schen Ques­ti­on­n­aire, der eigens dazu ent­wi­ckelt wurde.

Orthorexie-Questionnaires als Diagnostikinstrument

In der Psy­cho­lo­gie sind dia­gnos­ti­sche Fra­ge­bö­gen ein in der Pra­xis übli­ches Mit­tel, um etwa psy­chi­sche Stö­run­gen (wie z. B. Ess­stö­run­gen oder Depres­si­on) fest­zu­stel­len oder zumin­dest bei der Dia­gnos­tik behilf­lich zu sein. Mit dem Ortho-15 haben Doni­ni et al. (2004) den bekann­tes­ten die­ser Ques­ti­on­n­aires zur Dia­gno­se von Orthor­e­xie ent­wi­ckelt, der auch in meh­re­re Spra­chen über­setzt wurde.

Entwicklung von Fragebögen und Gütekriterien

Psy­cho­lo­gi­sche Ques­ti­on­n­aires wer­den übli­cher­wei­se nach einem bestimm­ten Ver­fah­ren ent­wi­ckelt und vali­diert, d. h. es kom­men bestimm­te sta­tis­ti­sche Metho­den zum Ein­satz und es wer­den bestimm­te sog. Test­gü­te­kri­te­ri­en betrach­tet und unter­sucht, ob sie erfüllt sind. Dies gibt dem geschul­ten Anwen­der des Ques­ti­on­n­aires einen schnel­len Über­blick über des­sen Qualität.

Validität

Das wich­tigs­te Güte­kri­tier­um ist die Vali­di­tät. Sie gibt Aus­kunft dar­über, ob der Ques­ti­on­n­aire tat­säch­lich misst, was er zu mes­sen vor­gibt. Oft­mals wird die Vali­di­tät bei­spiels­wei­se als Kon­strukt­va­li­di­tät anhand der sog. kon­ver­gen­ten und/oder dis­kri­mi­nan­ten Vali­di­tät bestimmt. Kon­ver­gen­te Vali­di­tät liegt vor, wenn das­sel­be zu mes­sen­de Kon­strukt mit einem ver­gleich­ba­ren Ques­ti­on­n­aire gemes­sen wird und hin­rei­chend ähn­li­che Ergeb­nis­se her­aus­kom­men. Dis­kri­mi­nan­te Vali­di­tät haben wir, wenn die­sel­be Fra­ge­stel­lung mit einem qua­si „gegen­tei­li­gen“ Ques­ti­on­n­aire unter­sucht wird und dann aber hin­rei­chend unähn­li­che Ergeb­nis­se resultieren.

Reliabilität und Objektivität

Die Relia­bi­li­tät beschreibt die Zuver­läs­sig­keit eines Ques­ti­on­n­aires, d. h. man unter­sucht hier, ob der Ques­ti­on­n­aire immer wie­der glei­che Ergeb­nis­se pro­du­ziert. Es gibt unter­schied­li­che Arten der Relia­bi­li­tät, die wir an die­ser Stel­le nicht bespre­chen – dies gin­ge zu detail­liert in die psy­cho­lo­gi­sche Testtheorie.

Die Objek­ti­vi­tät schließ­lich stellt fest, ob alle getes­te­ten Per­so­nen unter ver­gleich­ba­ren Bedin­gun­gen unter­sucht wur­den, ob die Ergeb­nis­se unab­hän­gig von der aus­wer­ten­den Per­son sind und ob die Inter­pre­ta­ti­on der Ergeb­nis­se nach ein­deu­ti­gen, nach­voll­zieh­ba­ren Regeln erfolgt.

Itemgenerierung bei Questionnaires

Bei der Kon­struk­ti­on eines psy­cho­lo­gi­schen Ques­ti­on­n­aires wer­den zuerst die sog. Items gene­riert, d. h. die Fra­gen oder Aus­sa­gen, die die zu unter­su­chen­de Per­son dann i. d. R. auf einer sog. Likert-Ska­la (z. B. „stim­me zu“, „stim­me eher zu“, „stim­me eher nicht zu“, „stim­me gar nicht zu“) ankreuzt. Es gibt wich­ti­ge sta­tis­ti­sche Kenn­zah­len, die über die Qua­li­tät der Items Aus­kunft geben, v. a. ist hier wich­tig, dass alle Items letzt­end­lich das­sel­be Kon­strukt mes­sen, d. h. fra­gen­mä­ßig sozu­sa­gen in die glei­che Rich­tung gehen. Dies wird auch als „inter­ne Kon­sis­tenz“ bezeich­net. Einen voll­stän­di­gen Über­blick über die Kon­struk­ti­on von Ques­ti­on­n­aires lie­fern z. B. Moos­brug­ger und Kela­va (2011).

Qualität des Ortho-15 zur Messung von Orthorexie

Die Autoren des Ortho-15 machen kei­ner­lei Anga­ben zu den Test­gü­te­kri­te­ri­en. Auch wer­den nicht die für die Item­ge­ne­rie­rung und ‑aus­wer­tung kor­rek­ten und ange­mes­se­nen Ver­fah­ren ver­wen­det. Bereits an die­ser Stel­le ist daher die Qua­li­tät des Ques­ti­on­n­aires zumin­dest zu hin­ter­fra­gen. Die Autoren tun nichts wei­ter, als eine bestimm­te Anzahl von Items anzu­bie­ten, die laut deren Aus­wer­tung signi­fi­kant zwi­schen zwei Grup­pen unter­schei­det (die­je­ni­gen, die mut­maß­lich eine Orthor­e­xie haben und jene, die sie mut­maß­lich nicht haben). Den Autoren zufol­ge kann damit eine Orthor­e­xie zuver­läs­sig dia­gnos­ti­ziert wer­den. Aber: Wir wis­sen gar nicht, ob die Per­so­nen, bei denen gemäß Ortho-15 eine Orthor­e­xie dia­gnos­ti­ziert wird, die­se frag­li­che Stö­rung über­haupt haben, denn die Kri­te­ri­en erschei­nen recht will­kür­lich und sind auch nicht wis­sen­schaft­lich begrün­det. Viel­mehr defi­nie­ren die Autoren eine Orthor­e­xie als gege­ben, wenn „Gesund­heits­fa­na­tis­mus“ sowie „zwang­haf­te Eigen­schaf­ten und Pho­bie“ par­al­lel vor­lie­gen, ohne dies zu belegen.

Fehlende wissenschaftliche Fundierung

Doni­ni et al. (2004) wer­fen zwei unter­schied­li­che Kri­te­ri­en in einen Topf, ohne eine wis­sen­schaft­li­che Begrün­dung zu lie­fern. Wäh­rend das zwei­te Kri­te­ri­um zumin­dest in sich stim­mig erscheint, wirft das ers­te erneu­te Zwei­fel auf, da „Gesund­heits­fa­na­tis­mus“ für die Autoren bereits dann zu bestehen scheint, wenn man sich betont für Lebens­mit­tel ent­schei­det, die all­ge­mein als gesund ange­se­hen wer­den. Der Ques­ti­on­n­aire ist damit ein gutes Bei­spiel für pro­ble­ma­ti­sche Messinstrumente.

Im nächs­ten Teil der Arti­kel­rei­he betrach­ten wir eini­ge Items des Ortho-15 und wei­te­re inhalt­li­che Pro­ble­me, die damit ver­bun­den sind.

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