Orthorexie – die Pathologisierung von Gesundheitsverhalten (Teil 1)

Orthorexie Gesundheitsverhalten

Der Begriff Orthor­e­xie (oder Orthor­exia ner­vo­sa) wur­de zum ers­ten Mal im Jahr 1997 von dem US-ame­ri­ka­ni­schen Arzt Ste­ven Brat­man ver­wen­det. Er beschreibt damit den Zwang, sich gesund zu ernäh­ren. Aller­dings bleibt hier­bei völ­lig offen, was genau mit gesun­der Ernäh­rung gemeint ist, so dass eine gewis­se Abgren­zungs-Pro­ble­ma­tik besteht. Im heu­ti­gen ers­ten Teil der Arti­kel­rei­he über Orthor­e­xie betrach­ten wir eini­ge Pro­ble­me mit die­sem Kon­strukt, auch beleuch­ten wir die Gefahr der Patho­lo­gi­sie­rung von Gesund­heits­ver­hal­ten, ins­be­son­de­re einer gesund­heits­be­wuss­ten Ernährung.

Ungesunde Ernährung als Norm

Wir leben in einer Gesell­schaft, in der unge­sun­de Ernäh­rung die Norm zu sein scheint. Wir wer­den von klein auf mit unge­sun­den Lebens­mit­teln kon­fron­tiert, daher sie sind für uns nor­mal, weil wir sie gewohnt sind. So fin­den wir im Super­markt unzäh­li­ge fett- und zucker­rei­che Fer­tig­prod­duk­te, die bal­last­stoff­arm sind und häu­fig auch viel tie­ri­sches Fett und Pro­te­in ent­hal­ten. Vie­le Men­schen kau­fen und essen die­se Pro­duk­te gewohn­heits­mä­ßig oder weil es als Ver­ein­fa­chung des All­tags wahr­ge­nom­men wird.

Nun sind jene, die sich gesund ernäh­ren (d. h. viel voll­wer­ti­ge pflanz­li­che Lebens­mit­tel in ihren Spei­sen­plan inte­grie­ren) und ein aus­ge­präg­tes Gesund­heits­be­wusst­sein haben, der­zeit in der Min­der­heit. Das zieht dann auch eher Auf­merk­sam­keit auf sich, kann leicht als norm­ab­wei­chend ange­se­hen wer­den und es besteht die Gefahr, dass man sich dazu hin­rei­ßen lässt, hier etwas Patho­lo­gi­sches zu sehen – zumal es sehr viel ein­fa­cher ist, eine Min­der­heit zu patho­lo­gi­sie­ren als eine Mehr­heit. Ein ver­kürz­tes Bei­spiel zur Illus­tra­ti­on: Wären 90 % der Men­schen depres­siv, wür­de Depres­si­on zur Norm und jeder, der glück­lich ist, wür­de einer Min­der­heit ange­hö­ren. Ver­mut­lich wür­de es nicht lan­ge dau­ern, bis jemand die Idee einer Hedo­nie-Stö­rung her­vor­bringt, an der mut­maß­lich jeder lei­det, der nicht depres­siv ist.

Ungesunde Ernährung ist der wichtigste Risikofaktor für chronische Krankheit

Unge­sun­de Lebens­mit­tel sind wie gesagt all­ge­gen­wär­tig. Doch wie steht es auf der ande­ren Sei­te um gesund­heits­för­der­li­che Lebens­mit­tel wie voll­wer­ti­ge pflanz­li­che Lebens­mit­tel, z. B. Obst, Gemü­se, Nüs­se und Hül­sen­früch­te? Die­se wer­den in der Bevöl­ke­rung zu wenig ver­zehrt, was den Risi­ko­fak­tor für chro­ni­sche Erkran­kun­gen dar­stellt (Lim et al., 2012). Eine unge­sun­de Ernäh­rung leis­tet den mit Abstand größ­ten Bei­trag zu chro­ni­scher Krank­heit und früh­zei­ti­gem Tod (Mur­ray et al., 2013). Ist es also rich­tig, gesun­de Ernäh­rung kri­tisch zu beäu­gen? Oder soll­ten wir die Patho­lo­gi­sie­rung bes­ser dort anset­zen, wo sie hingehört?

Orthorexie vs. Carnorexie

Wenn wir die Gesund­heit der Bevöl­ke­rung im Blick haben und man ger­ne neue Stö­rungs­bil­der ein­füh­ren möch­te – war­um dann nicht ein rea­li­täts­nä­he­res, das an wirk­li­chen Risi­ko­fak­to­ren ansetzt? Man könn­te es z. B. „Car­nore­xie“ nen­nen, den Zwang, Fleisch bzw. Fisch zu essen. Denn vie­le möch­ten auf die­se Lebens­mit­tel nicht ver­zich­ten, obwohl die For­schungs­li­te­ra­tur das grund­sätz­li­che Risi­ko­po­ten­ti­al jener Lebens­mit­tel­grup­pen bei regel­mä­ßig hohem Ver­zehr auf­zeigt. Oder den­ke man auch bei­spiels­wei­se dar­an, dass Milch­pro­duk­te kaum aus dem All­tag weg­zu­den­ken sind – obwohl die­se für die mensch­li­che Ernäh­rung nicht essen­zi­ell sind. Könn­te man hier die Idee einer „Lak­tor­e­xie“, den Zwang, Milch­pro­duk­te zu ver­zeh­ren, vor­brin­gen? Das sind natür­lich pro­vo­ka­tiv for­mu­lier­te Fra­gen, die aber auf­zei­gen sol­len, dass Kon­struk­te, die ent­wi­ckelt wer­den, nicht immer nütz­lich sind oder auch an der Rea­li­tät vor­bei­ge­hen kön­nen. In die­sem Zusam­men­hang ist aus ethi­scher Sicht auch der von Joy (2013) bespro­che­ne auf psy­cho­lo­gi­scher Ebe­ne ablau­fen­de Kar­nis­mus (d. h. man liebt man­che Tie­re, wäh­rend ande­re aus­ge­beu­tet oder getö­tet wer­den) zu bedenken.

Orthorexie: Essstörung oder Zwanghaftigkeit

Bei der Orthor­e­xie geht es ja um ein zwang­haf­tes Ver­hal­ten. Die ein­gangs genann­te Defi­ni­ti­on ver­mischt jedoch mit Zwang­haf­tig­keit und Ess­stö­rung zwei ver­schie­de­ne Din­ge. Zeigt jemand zwang­haf­tes Ver­hal­ten, das zu einer Ein­schrän­kung im Ernäh­rungs­ver­hal­ten führt, bedeu­tet dies nichts Ande­res als dass sich die Zwang­haf­tig­keit im Essen äußert. Bei jemand ande­rem äußert sich die Zwang­haf­tig­keit viel­leicht beim Hän­de­wa­schen. Der Volks­mund spricht hier zwar von einem „Wasch­zwang“, jedoch wür­de psy­cho­the­ra­peu­tisch eine Zwangs­stö­rung zur Dis­kus­si­on ste­hen. Hier läge genau so wenig eine „Wasch­stö­rung“ vor, wie im Zusam­men­hang der Orthor­e­xie eine Essstörung.

Anekdotische Berichte zur Orthorexie

Es kommt in der Lite­ra­tur vor, dass von Pati­en­ten berich­tet wird, ohne eine Stu­die durch­ge­führt zu haben. Man spricht dann von anek­do­ti­scher Evi­denz, die nicht per se frei von Nut­zen ist, da sie etwa die Gene­rie­rung von For­schungs­fra­gen unter­stüt­zen kann. Sie ist aber die schwächs­te Form der Evi­denz und kann zur Gesamt­be­ur­tei­lung eines Sach­ver­hal­tes nicht als Haupt­kri­te­ri­um her­an­ge­zo­gen wer­den. Brat­man (2000) selbst nennt u. a. fol­gen­de Bei­spie­le, bei denen er eine Orthor­e­xie fest­ge­stellt haben will:

Eine Pati­en­tin, die glaub­te, dass die in der Nah­rung ent­hal­te­nen Vit­ami­ne und Mine­ral­stof­fe nicht zur Bedarfs­de­ckung aus­rei­chen, wes­we­gen sie stark über­höh­te Men­gen an Sup­ple­men­ten nach einem Zeit­plan und einem bestimm­ten Mus­ter ein­nahm. Hier­bei han­delt es sich auto­ma­tisch um eine Zwang­haf­tig­keit, zumin­dest aber ein uaf­fäl­li­ges Ver­hal­ten. Dies dürf­te aber eher durch eine ekla­tan­te Fehl­in­for­ma­ti­on ange­trie­ben sein. Die Pati­en­tin im Bei­spiel glaubt nicht per se, sich gesund ernäh­ren zu müs­sen, son­dern sie glaubt, dass der Nähr­stoff­ge­halt in Nah­rungs­mit­teln unzu­rei­chend ist. Hät­te man sie im Sin­ne einer Ernäh­rungs­auf­klä­rung rich­tig infor­miert, stün­de sie ver­mut­lich bes­ser da. Psy­cho­the­ra­peu­tisch ist nicht an eine Ess­stö­rung, zu den­ken, viel­mehr ist eine qua­li­fi­zier­te Ernäh­rungs­be­ra­tung ange­zeigt, um das Ver­hal­ten der Pati­en­tin einzunorden.

Ein vier­jäh­ri­ger Jun­ge, der auf­grund der durch die Eltern auf­ge­zwun­ge­ne makro­bio­ti­sche Ernäh­rung eine schwe­re Dehy­drie­rung auf­wies. Die Eltern in die­sem Bei­spiel wei­sen kei­nen Zwang zur gesun­den Ernäh­rung auf, denn sonst hät­ten sie ja umso mehr dar­auf geach­tet, dass ihr Sohn aus­rei­chend trinkt. Die Ver­knüp­fung einer makro­bio­ti­schen Ernäh­rung mit Dehy­drie­rung erscheint ziem­lich gewagt. Auch hier liegt in ers­ter Linie, wie im vori­gen Bei­spiel, ein schwer­wie­gen­des Infor­ma­ti­ons­de­fi­zit vor, makro­bio­ti­sche Ernäh­rungs­for­men wer­den eigent­lich nicht emp­foh­len. Zusätz­lich wäre die Fra­ge zu klä­ren, ob die Eltern auch dehy­driert sind. Auch ist die Fra­ge der Kau­sa­li­tät nicht geklärt: Führ­te ein an sich pro­ble­ma­ti­sches Ver­hal­ten der Eltern zur makro­bio­ti­schen Ernäh­rung oder führ­te jene Ernäh­rungs­form zum Ver­hal­ten, das als pro­ble­ma­tisch wahr­ge­nom­men wur­de? Je nach Rich­tung der Kau­sa­li­tät ändert sich der Sachverhalt.

Meh­re­re Pati­en­ten, die ein aus­ge­präg­tes selek­ti­ves Ernäh­rungs­ver­hal­ten zeig­ten, das auf Hypo­chon­drie zurück­zu­füh­ren war. Die­ses Bei­spiel ist sehr dif­fus und unspe­zi­fisch. Es ist über­haupt nicht klar, was „selek­tiv“ hier über­haupt bedeu­tet. Grund­sätz­lich ist jeder in sei­nem Ernäh­rungs­ver­hal­ten zunächst selek­tiv, das hat noch lan­ge kei­nen patho­lo­gi­schen Wert. Auf der ande­ren Sei­te ist in die­sem Bei­spiel nicht das Ess­ver­hal­ten das Pro­blem, son­dern die Hypo­chon­drie. Die­se soll­te Ziel einer Behand­lung sein.

Die­se und ande­re Bei­spie­le sind in der Lite­ra­tur zu fin­den, doch erkennt man sehr schnell, dass es recht gewagt ist, hier auf eine Ess­stö­rung zu schlie­ßen. Man bekommt viel­mehr den Ein­druck, dass in den Bei­spie­len etwas gese­hen wur­de, weil man es sehen wollte.

Einschränkung ist orthorektisches Verhalten?

Orthor­e­xie defi­niert den Ver­zicht auf bestimm­te Lebens­mit­tel als Ein­schrän­kung, die hier­bei eine patho­lo­gi­sche Kon­no­ta­ti­on erhält. Ein­schrän­kung wird von Befür­wor­tern wie­der­um ger­ne mit einer rigi­den Ernäh­rungs­form gleich­ge­setzt. Dies ist jedoch ein Fehl­schluss, denn inter­es­san­ter­wei­se hän­gen bei­de Kon­zep­te – Orthor­e­xie und Ernäh­rungs­form – nicht zusam­men: Es konn­te gezeigt wer­den, dass Misch­köst­ler stär­ke­re Mus­ter der Restrik­ti­on auf­wei­sen als Vege­ta­ri­er und Vega­ner (Forestell et al., 2012; Tim­ko et al., 2012), obwohl die bei­den letzt­ge­nann­ten For­men per Defi­ni­ti­on bestimm­te Lebens­mit­tel­grup­pen strei­chen. Dar­über hin­aus wei­sen Vega­ner im Ver­gleich zu ande­ren die gesün­des­ten Ein­stel­lun­gen zum Essen auf, Misch­köst­ler ver­fü­gen hier über die dys­funk­tio­nals­ten Ein­stel­lun­gen (Tim­ko et al., 2012). Das Kon­zept der Orthor­e­xie geht also nicht auf, da ja gera­de der Misch­köst­ler kei­ne augen­schein­li­chen Ein­schrän­kun­gen in sei­ner Lebens­mit­tel­aus­wahl vor­nimmt, gleich­zei­tig aber das im direk­ten Ver­gleich größ­te Risi­ko für pro­ble­ma­ti­sches Ess­ver­hal­ten aufweist.

Die Diskussion muss verlagert werden

Es wäre also spä­tes­tens an die­ser Stel­le ange­zeigt, die Dis­kus­si­on auf den Punkt zu ver­la­gern, der wesent­lich für chro­ni­sche Krank­heit ver­ant­wort­lich ist, näm­lich der Ver­zehr – nicht die Mei­dung – unge­sun­der Lebens­mit­tel! Ein gesund­heits­ori­en­tier­tes (oder im Fall der vega­ta­ri­schen bzw. vega­nen Ernäh­rung auch ethi­sches) Prin­zip darf nicht patho­lo­gi­siert werden.

Die Gefahr ist ein­fach zu groß, dass der Begriff Orthor­e­xie dazu miss­braucht wird, die Inten­ti­on einer gesün­de­ren Ernäh­rung in ein nega­ti­ves Licht zu rücken und den Men­schen in Bezug auf schlech­te Ess­ge­wohn­hei­ten ein (fal­sches) gutes Gefühl zu ver­mit­teln. Daher stif­tet das Orthor­e­xie-Kon­strukt wenig Nut­zen, führt bes­ten­falls zur Ver­wir­rung und setzt an der völ­lig fal­schen Stel­le an, auch die Defi­ni­ti­on ist nicht spe­zi­fisch genug.

In Teil 2 sehen wir uns einen Orthor­e­xie-Ques­ti­on­n­aire an.

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